Die Vorgeschichte: Winterthur wächst
Lebten 1850 auf dem heutigen Stadtgebiet rund 13'500 Menschen, so wuchs diese Zahl bis 1900 auf 41'000 Einwohner/innen. Hintergrund dieser Verdreifachung der Einwohnerzahl bildete der wirtschaftliche Aufschwung Winterthurs: Im Zuge der Industrialisierung wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts zahlreiche Fabriken gegründet, besonders die Maschinen- und Metallindustrie wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant. Zahlreiche Arbeiter/innen zogen nach oder in die Nähe von Winterthur. Auf der Suche nach günstigem Wohnraum wurden sie vorwiegend in den umliegenden Dörfern Veltheim, Töss und Wülflingen fündig, die alle in der Nähe der grossen Fabriken lagen. Weil sie aufgrund ihres geringen Vermögens jedoch kaum Steuererträge brachten (die Dörfer erhoben im Vergleich zur Stadt Winterthur auch keine Einkommenssteuer), hatten die Gemeinden zunehmend grosse soziale Lasten zu tragen. Forderungen nach einem finanziellen Ausgleich durch die Stadt Winterthur wurden laut, zumal die meisten Firmensteuern in die Kasse der Stadt flossen.
Veltheims erster Vorstoss
In Veltheim, der kleinsten aller Vorortsgemeinden, verfünffachte sich die Bevölkerungszahl innerhalb eines halben Jahrhunderts. Das dem Stadtzentrum nahegelegene Dorf verschmolz städtebaulich schnell mit der Stadt Winterthur, die finanzielle Situation wurde immer drückender. 1889 äusserte Veltheim als erste Vorortsgemeinde den Wunsch nach einer Eingemeindung. Von einem Aktionskomitee ausgearbeitet, reichte sie 1891 ein entsprechendes Begehren ein.
Dreissigjähriges Ringen um finanzielle Gerechtigkeit
Das Begehren wurde durch den Kanton sowie die Gemeindeversammlung der Stadt Winterthur abgelehnt. Stattdessen zahlten Stadt und Kanton je 5'000.- Ausgleichszahlung an die mittellose Gemeinde. Diese zog im Gegenzug ihre Initiative zurück. Ab 1904 kam auch die Gemeinde Töss in den Genuss solcher Zahlungen. Als auch die Gemeinde Wülflingen eine finanzielle Unterstützung beantragte, wurde die Forderung jedoch zweimal – 1901 und 1905 – abgelehnt.
Die geringen Ausgleichszahlungen brachten keine Besserung der betroffenen Gemeindefinanzen mit sich. Als sich auch Seen und Oberwinterthur immer mehr von wohlhabenden Landgemeinden zu Arbeiterdörfern in finanzieller Not verwandelten, hatte die Stadt 1913 schliesslich ein Einsehen. Aus Angst vor einer sozialdemokratischen Machtübernahme und einer zu starken finanziellen Belastung sah sie jedoch von einer Totalvereinigung ab und Schlug eine Art Zweckverband der Gemeinden vor.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 gerieten entsprechende Prozesse ins Stocken. Zugleich nahm die finanzielle Not in den Vorortsgemeinden nochmals zu. Ein Initiativkomitee rund um die SP Veltheim und Wülflingen reichte 1916 schliesslich eine Volksinitiative ein, welche die Eingemeindung aller fünf Vororte verlangte.
Bei der kantonalen Volksabstimmung 1919 wurde die Zuteilung der fünf Vororte zur Stadt Winterthur von den stimmberechtigten Bürgern (Frauen durften noch nicht stimmen) mit überwältigendem Mehr angenommen. Auch in der Stadt Winterthur stimmten 88% der Stimmberechtigen für eine Eingemeindung. Die Folgen des Ersten Weltkrieges und insbesondere die missliche wirtschaftliche Lage förderten das Solidaritätsverständnis in der Bevölkerung und ermöglichten nach dreissigjährigem Ringen endlich eine Fusionierung.
Die Geburtsstunde von Gross-Winterthur
Nachdem auch die neu erarbeitete Gemeindeordnung von den Winterthurer Männern angenommen wurde, nahm das neue Gemeindewesen von Gross-Winterthur am 1. Januar 1922 seine Tätigkeit auf. Über Nacht wurde Winterthur zur flächengrössten Stadt der Schweiz und wuchs um 23 360 auf 49 969 Einwohnerinnen und Einwohner.
Text: Museum Schaffen
Vertiefende Informationen zu den historischen Hintergründen der Eingemeindung vermittelt ab dem 9. September 2022 die Ausstellung «Stahl und Rauch» des Museum Schaffen.